Als im Mai die Feuer brannten, stand einer dabei und sah zu, wie auch seine Bücher ins Feuer flogen: Erich Kästner. »Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt…«
Er blieb im Land. Er war einer der Wenigen.
Später, viel später, am 10. Mai 1958, hat er auf einer Rede zum 25. Jahrestag der Bücherverbrennung bekannt: »Ich war nur passiv geblieben. Auch damals und sogar damals, als unsere Bücher brannten. Ich hatte angesichts des Scheiterhaufens nicht aufgeschrien. Ich hatte nicht mit der Faust gedroht. Ich hatte sie nur in der Tasche geballt. Warum erzähle ich das? Warum mische ich mich unter die Bekenner? Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Keiner weiß, ob er aus dem Stoff gemacht ist, aus dem der entscheidende Augenblick Helden formt.«
Ein anderer blieb nicht: Joseph Roth. Am Tag als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, am 30. Januar 1933, verließ er Deutschland für immer.
Joseph Roth an Stefan Zweig:
»Inzwischen wird es Ihnen klar sein, daß wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten – unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet – führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen.«
Stefan Zweig machte sich Illusionen. Er war der meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller auf der Welt. Aber diese Welt verstand er nicht: Seine Bücher brannten. Seine. Das konnte doch nicht sein, das musste eine Verwechslung sein.
Er glaubte lange Zeit, dass es eine Art Vernunft geben könne, dass die Nationalsozialisten vielleicht doch nur die politisch Missliebigen, die Linken, die Kommunisten, die Kämpfer ins Visier nehmen würden, nicht die Stillen, die Zurückhaltenden. Wenn man sich nur ruhig verhielte, könne man vielleicht einen Kompromiss erreichen, könne man sich den deutschen Markt vielleicht erhalten. Ja, den Arnold Zweig greifen sie an, das konnte er noch verstehen, da gab es Gründe: Zionist, Kommunist, politischer Kämpfer, klar, dass die Nazis so einen hassten. Aber ihn?
Roth sein langjähriger Freund und klarsichtig wie kein zweiter, schrieb ihm: »Man verwechselt Sie nicht, weil Sie Zweig heißen, sondern weil Sie ein Jude sind, ein Kulturbolschewik, ein Pazifist, ein Zivilisationsliterat, ein Liberaler. Jede Hoffnung ist sinnlos. Diese ’nationale Erneuerung‹ geht bis zum äußersten Wahnsinn.« Und noch deutlicher: »Man verfolgt die Juden nicht, weil sie etwas verbrochen haben. Sondern weil sie Juden sind.« Zweigs Missverständnis war das Missverständnis vieler assimilierter Juden in Deutschland und Österreich in jenen Jahren. Das Missverständnis der Hoffnung, dass ihr Judentum, das ihnen selbst im Alltag kaum noch bewusst gewesen war, auch den Gegnern unmöglich bewusst sein konnte.
Es war eine Zeit, die keinen Raum für Kompromisse ließ. Es gab da kein halbes Mitmachen in Deutschland. Es war die Zeit der Entscheidungen.
Roth an einen, der sich, auf Druck seines Verlages, von der Exilzeitschrift Klaus Manns, der Sammlung, distanziert hatte: »Seit wann ist es so, daß ein Schriftsteller sagen darf, ich muß lügen, weil meine Frau leben und Hüte tragen muß? Und seit wann ist es üblich, das gutzuheißen? Seit wann ist die Ehre billiger als das Leben und die Lüge ein selbstverständliches Mittel, das Leben zu retten?«
Roth überlebte das Exil nicht, Stefan Zweig wählte den Freitod, er hatte die Hoffnung verloren.
Viele Autoren verließen Deutschland. Mussten es verlassen. Manche in großer Not, manche unter Lebensgefahr. Es gibt Beschreibungen. Sie landeten in der Sowjetunion, dort kamen sie vom Regen in die Traufe, wurden verhaftet, verschwanden in Sibirien. Sie fanden sich in Schweden wieder, in Brasilien, in Mexiko, in den USA. Sie hatten ihre Heimat verloren, und mit der Heimat die Sprache, sie wurden sprachlos und verstummten – bis auf wenige. Sie hungerten, sie froren. Hunderte, Tausende,aus Deutschland, aus Österreich.
Und als der Spuk zu Ende war, nach Millionen von Gefallenen und Ermordeten, kamen einige wenige zurück und erkannten ihre Heimat nicht wieder, und niemand kannte sie und niemand wollte sie kennen lernen. Die Bücher in den Regalen der Buchläden und Bibliotheken waren nicht mehr die Ihren. Sie waren vergessen worden.
Nicht alle, aber die meisten.
Als im Mai die Feuer brannten, wurde eine der schöpferischsten und experimentierfreudigsten Epochen der deutschen Kultur-Geschichte zu Grabe getragen. Autoren wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Thomas und Heinrich Mann, Carl von Ossietzky, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Arnold Zweig und Stefan Zweig schrieben Weltliteratur. Der Film entwickelte sich zum Massenmedium und setzte künstlerische Akzente. Der durch Walter Gropius in Weimar begründete Bauhausstil wurde zu einem der bedeutendsten Architekturstile des 20. Jahrhunderts. George Grosz sei für die vielen Künstler genannt, der mit seinen ätzend satirischen Darstellungen von Bourgeoisie, Justiz und Militär die sozialen Missstände der Weimarer Republik anprangerte. Die Musik: Hanns Eisler, Paul Dessau, sie kennt man noch. Andere sind verschwunden, verschollen, nicht mehr auffindbar: als hätten sie nie ein Buch geschrieben, nie eine Note komponiert, nie ein Bild gemalt.
Die Weimarer Republik gab es nicht mehr, die Demokratie, die keine Basis in der Bevölkerung hatte, die von Leuten geführt wurde, die keine Demokraten waren, die von Notverordnung zu Notverordnung regierte, deren Justiz und Verwaltung nie demokratisiert worden war, diese Demokratie war am Ende. Weltwirtschaftskrise, Hunger und soziale Not, aber auch die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben, einem Leben ohne Saal- und Straßenschlachten, eine Führung durch einen Mann, der wieder Ordnung schaffte, endlich auch die Möglichkeit aufzusteigen in Positionen, die man erwünschte, auch zum Nachteil anderer. Es kommt viel zusammen, wenn man die zunehmende Akzeptanz eines Adolf Hitler erklären will.
Es hätte anders kommen können: »Bei allen historischen Belastungen der Weimarer Republik gab es keine Zwangsläufigkeit der deutschen Geschichtsentwicklung zum »Dritten Reich«“« hin. Jederzeit – auch in der Spätphase der Weimarer Republik – waren andere Entscheidungen möglich, die Hitler verhindert beziehungsweise seinen Aufstieg behindert hätten.« So die Bundeszentrale für Politische Bildung.
Ja, es gab den zaghaften Versuch, die NSDAP zu verbieten. Und man hatte auch Argumente, die ein Verbot ermöglicht hätten. Der Versuch scheiterte schon daran, dass die rechtsbürgerlichen Parteien einen Linksruck in Deutschland befürchteten.
1923 scheiterte Hitlers erster Versuch, an die Macht zu kommen. Er putschte und wurde verhaftet. Und änderte sein Konzept. 1924 schrieb er: »Statt die Macht durch Waffengewalt zu erringen, werden wir zum Ärger der katholischen und marxistischen Abgeordneten unsere Nasen in den Reichstag stecken. Wenn es auch länger dauert, sie zu überstimmen als sie zu erschießen, so wird uns schließlich ihre eigene Verfassung den Erfolg garantieren.«
Und 1930, als Zeuge in einem Hochverratsprozess: »Die Verfassung schreibt uns nur die Methoden vor, nicht aber das Ziel. Wir werden auf diesem verfassungsmäßigen Wege die ausschlaggebenden Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften zu erlangen versuchen, um in dem Augenblick, wo uns das gelingt, den Staat in die Form zu bringen, die unseren Ideen entspricht.«
1932 intervenierten 91 deutsche Hochschulprofessoren beim Reichspräsidenten, er möge doch endlich den rechten Mann zum Kanzler bestimmen.
Eine Reihe von Industriellen, Bankiers und Großgrundbesitzerntaten ein Gleiches in einer – natürlich – geheimen Eingabe.
Am 4. Januar 1933, einigten sich von Papen und Hitler – hinter dem Rücken von Schleichers, zu der Zeit Reichskanzler, auf eine mit Präsidialvollmachten ausgestattete Regierung Hitler-Papen mit zwei vorrangigen Aufgaben: »Die Entfernung aller Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden von führenden Stellungen in Deutschland« und die »Wiederherstellung der Ordnung im öffentlichen Leben«, und die »Abschaffung des Vertrages von Versailles … und die Wiederherstellung eines sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht starken Deutschlands.«
Am 30. Januar war Hitler Reichskanzler.
Am Abend des 27. Februar brannte der Reichstag.
Am 28. unterzeichnete Hindenburg eine ihm von Hitler vorgelegte »Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat«, die zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte.
Mit den Grundrechten wurden der Rechtsstaat und die Demokratie auf »legalem« Wege abgeschafft. Man kann die Verordnung vom 28. Februar 1933 als die Verfassungsurkunde des Dritten Reiches bezeichnen.
Es folgte der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte.
Dieser hatte allerdings noch keinen Erfolg.
Aber als die nationalsozialistische Studentenbewegung, die inzwischen an den Universitäten das Sagen hatte, die Verfemung von humanistischen Literaten ins Auge fasste, hielt sich die Führung der NSDAP zurück. Zu schnell war alles gegangen. Sie hatten die Wahlen im März gewonnen, die KPD ausgeschaltet, aber man fürchtete Reaktionen aus dem Ausland. Die Studenten jedoch hielten an ihrem Ziel fest. Und kaum einer der Professoren wagte zu protestieren. Doch Goebbels, noch gar nicht lange Propagandaminister, zögerte, in Berlin am 10. Mai eine Brandrede zu halten. Er hatte nicht geglaubt, dass MAN SCHON SO WEIT WAR.
Man war so weit.
Und er hielt seine Rede.
In fast allen Universitätsstädten des Deutschen Reiches brannten die Bücher, vom April bis in den Oktober hinein. Im heutigen Mecklenburg-Vorpommern in Rostock, in Greifswald, aber auch in den beiden »Landeshauptstädten« Neustrelitz und Schwerin.
Man vernichtete den Geist, man vernichtete das Denken. Man entfernte die Bücher missliebiger Autoren aus den Bibliotheken, dann aus den Buchhandlungen. Man entfernte Sozialdemokraten, Kommunisten, vor allem aber die Bürger jüdischen Glaubens von ihren Positionen aus Wissenschaft, Medizin, Kultur, aus ihren Kanzleien, Fabriken und Geschäften, endlich aus ihren Wohnungen. Es begann.
Der Jude war zum Feind erkoren worden.
Man bereitete sich darauf vor, Menschen zu vernichten.
Und es geschah.
Auf dem Reichsparteitag im Herbst 1934 konnte Hitler erklären:
»Die nationalsozialistische Revolution ist als revolutionärer, machtmäßiger Vorgang abgeschlossen! Sie hat als Revolution restlos erfüllt, was von ihr erhofft werden konnte …
Der Wille der nationalsozialistischen Staatsführung ist ein unbeirrbarer und ein unerschütterlicher. Sie weiß, was sie will, und will, was sie weiß. Sie hat zu dieser Selbsteinschätzung ein Recht, denn sie hat hinter sich das Zeugnis einer Bewährung, das geschichtlich nur sehr selten ausgestellt wird. Denn die Staatsführung des heutigen Reiches ist die Führung der Nationalsozialistischen Partei. Was dieser aber im kurzen Zeitraum von 15 Jahren gelang, wird dereinst den Kindern späterer Generationen unseres Volkes gelehrt werden als das ›Deutsche Wunder‹ … Die deutsche Lebensform aber ist damit für das nächste Jahrtausend endgültig bestimmt … In den nächsten tausend Jahren findet in Deutschland keine Revolution mehr statt.«
Und wir Heutigen? Wir Nachgeborenen? Was wird man von uns erzählen in 20, 30, in 80 Jahren. Wie haben wir es verstanden, unsere Demokratie zu retten vor der neuen braunen Gefahr. Haben wir den Mut, wenn die Zumutung an uns herantritt? Wird man unsere Bücher lesen, unsere Musik spielen, unsere Kunst achten. Oder sind wir verschollen wie die vielen vor uns, ausgelöscht, namenlos.
Die Neufassung des Paragrafen 130 des Strafgesetzbuches von 1871 in den Jahren 1959 und zuletzt 2011 – Volksverhetzung – beruhte auf der historischen Erfahrung, dass der Nationalsozialismus auch durch rechtliches Dulden von Hetzpropaganda ermöglicht wurde.
Es hieß einmal: Wehret den Anfängen. Fangen wir an.
Mai 2023
Zitate, Zweig und Roth betreffend, sind dem Buch »Das Buch der verbrannten Bücher« von Volker Weidermann, Köln 2008, entnommen.