Warum hat Lyrik zu Krisenzeiten Hochkonjunktur?

Hannah Lenz

Aktuell gibt es mehrere Lyrik-Preis-Ausschreibungen, auffällig viele.

Ich möchte mich bewerben, habe allerdings Mühe, die richtigen Texte zu wählen. Eine der Ausschreibungen verlangt sogar nur zwei Texte. Oh, wie soll das gehen? Kann ich mit nur zwei Gedichten etwas ganz Spezifisches von mir zeigen? Außerdem: Wie kann ich in politisch und wirtschaftlich so brisanten Zeiten ganz private Empfindungen, die ich mir einmal vom Leib schrieb, in eine Wettbewerbs-Waagschale werfen? 

Ich werde es trotzdem tun. Aber es gibt Fragen: Ob ich meine Chagall-Ballade nehme, wo es um Synästhesie geht? Und dazu ein erotisches Gedicht? Oder doch lieber Chagall und »Gefährliche Ruhe«; da geht es immerhin um eine persönliche Krise, die ich als 8‑Jährige hatte.

Lebenskrisen gab es in meiner Biographie zuhauf.

2014 war zum Beispiel ein ganz hartes Jahr für mich. Ich wurde krank, verlor meine Arbeit. Mein letztes Kind ging »aus dem Haus«, bzw. aus der kleinen gemeinsamen Wohnung, in der ich schon lange alleinerziehend lebte. Plötzlich war ich Rudeltier allein und mehr als nur finanziell und gesundheitlich ausgebrannt. Im November starb auch noch mein Vater plötzlich.

Doch vorher gab es im September meine Lesung im Kulturhaus Mestlin und für die Gäste die Begegnung mit »Meinen großen Brüdern«, Künstlern wie Marc Chagall, Max Ernst, Franz Marc oder Lyonel Feininger. Die musikalische Begleitung übernahm eine junge Lüneburger Musikerin auf dem Akkordeon und Saxophon. In den Wochen davor schrieb ich zusätzliche Balladen, arbeitete ich eifrig an meinen Texten, an der Ausarbeitung des Vortrags meiner Gedichte, feilte an Rhythmen und Syntax und fieberte der Premiere meiner Performance entgegen.

Heute bin ich überzeugt davon, dass ich ohne diese riesige Aufgabe weniger gut durch meine persönlich schwierigste Zeit gekommen wäre.

Inzwischen fühlen sich diese Jahre auch im Nachgang nicht gerade rosig an. Jedoch die derzeit aktuelle politische Lage in Deutschland; die damals noch weit entfernte Pandemie; die dramatischer werdenden klimatischen Veränderungen auf unserem Planeten; die Geflüchteten-Bewegungen seit 2015; der Ukraine-Krieg und die Inflation; DAS ALLES sind derzeit so bedrückende Szenarien, so dass mir das eigene lyrische Schreiben abhanden gekommen ist. Allerdings bin ich heute stabiler, gesund und kämpferisch, auch wenn ich seit drei Jahren »leer geschrieben« scheine, jedenfalls was die Lyrik betrifft. 

Und jetzt will ich an einem Lyrik-Wettbewerb teilnehmen!

Welche zwei Gedichte wähle ich in diesen Zeiten?
Um den Blick auf das Eigene zu schärfen, die Auswahl überhaupt treffen zu können, gehe ich vor meinem Buchregal auf und ab, nehme mal einen Gedichtband von Hilde Domin in die Hand, besuche Rose Ausländer oder Christine Lavant, erschrecke vor der Wucht eines Jannis Ritsos (und dieser Schreck macht mich jedes mal fröhlich) und erlebe sie, die allesamt schon bei den Toten weilen, in ihrer prallen Lebendigkeit.

Gerade das Offenlegen ihrer innersten Befindlichkeiten, die sich natürlich auch am politischen Zeitgeist, aber ebenfalls an intimsten emotionalen Nöten und Freuden rieben, lässt mich als Leserin eintauchen in Seelenbilderbögen und zutiefst Menschliches.

Warum erkenne ich mich darin, ich lebe doch heute?
Weil es um Elementares geht?
Weil gerade in der konzentrierten Kurzform von Lyrik ein unmittelbares Eintauchen in etwas uns Menschen Verbindendes rasch und direkt möglich scheint?
Weil gerade das ein Trost ist?

Lyrik hält für mich die Zeit an.
Ich schaue in den inneren Spiegel eines Dichters, einer Dichterin, wie in einen Brunnen der das Wasser des Lebens für mich bereit hält: »Trinke, oder trinke nicht.« Das ist die Freiheit, die Lyrik gewährt. Sie kann außerdem – ohne kalibrierte Schleifen zu ziehen – unmittelbar Gefühle provozieren oder erinnern.

In der Poesie scheint ein Ankerplatz möglich, ein direkter und ungeschönter Zugang zu eschatologischen Fragen. Poesie kann genauso gut und gleichzeitig – ein Widerspruch und dennoch stimmig – indirekt und verschönernd wirken, eine Quelle der Labsal sein, und wir finden Geschwister im Geiste, rückblickend in allen Jahrhunderten. 

Werde ich bei der Lektüre eines Romans auf vielen Ebenen angesprochen und vereinnahmt, zeigt mir ein Gedicht ein Blitzlicht der Wahrnehmung eines anderen Menschen. Lese ich Zeitung, will ich von der Welt um mich herum erfahren. Vertiefe ich mich in ein Gedicht, sehe ich die Innenwelt eines anderen. Ich erlebe eine unsichtbare Handreichung, wenn es mich berührt.

Wenn ich einen beruflichen Fachtext lese, lerne ich wichtige Kompetenzen zu ergänzen. Ertaste ich jedoch die lyrische Welt-Anschauung eines Zeitgenossen oder einer längst verstorbenen Dichterin, nehme ich Anteil an unendlichen Facetten von Reflexionen. Etwas kommt ins Fließen. Mein Gefühlsleben wird bereichert. Schönheit wird genährt.
Der letzte Gedanke lässt mich Mut fassen, mich neben dem Chagall-Gedicht mit einem erotischen Text zu zeigen

Lyrik hat deshalb in Krisenjahren Hochkonjunktur, weil sie sinnliche Erfahrungen zulässt in einer kalten Welt des Rationalen, weil sie nicht ökonomisch, berechnend, sachlich oder zerstörerisch ist. Gedichte können die schönsten Blüten am Baum der Erkenntnis sein.

Nicht Früchte. Blüten.